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My Soul is in the Machine

  Conlon Nancarrows Kompositionstechnik -

die Entstehung einer Study for Player Piano

 Jürgen Hocker©[1]

 

Nancarrow, Study No. 49c. Ende des Lochstreifens

 

Als Nancarrow in den vierziger Jahren mit der Erforschung und musikalischen Umsetzung neuer Tempo- und Geschwindigkeitsrelationen begann, gab es keine Interpreten, die in der Lage gewesen wären, seine metrisch komplexen Kompositionen zu spielen. Und der Musikcomputer befand sich noch in weiter Ferne. So wählte er zur Realisierung seiner musikalischen Vorstellungen - angeregt durch Henry Cowells Buch 'New Musical Resources' - das Player Piano. Der Aufwand war enorm: Fast ein Jahr Arbeit benötigte er, um wenige Minuten Musik in einen Lochstreifen zu stanzen. Dazu das Fehlen jeglicher Motivation von außen, jeglicher öffentlicher Anerkennung. Dennoch schuf Nancarrow in selbstgewählter Isolation in Mexico mit unnachgiebiger Konsequenz ein grandioses Werk für ein Instrument, das es eigentlich außerhalb der Museen gar nicht mehr gibt. In der ihm eigenen Bescheidenheit sagte er einmal: „Ich habe mich in eine kleine musikalische Nische zurückgezogen, aber ich glaube, ich habe sie gut erforscht“.

Die Stanzmaschine

Zwischen 1940 und 1981 verließ Nancarrow sein Exil in Mexico nur ein einziges mal: 1947 reiste er mit Annette Margolis nach New York, um eine Stanzmaschine zu erwerben. Dies war jedoch schwieriger als ursprünglich vermutet.  

Notenrollen, die zum Steuern der Player Pianos dienten, wurden von großen Firmen zu Beginn unseres Jahrhunderts in unüberschaubarer Zahl angeboten. Zu ihrer Herstellung dienten vollautomatische Kopiermaschinen, die in einem Durchgang bis zu 20 Exemplare stanzen konnten. Die meisten dieser Maschinen wurden mit dem Niedergang der Musikwerke-Industrie um 1930 verschrottet. Neben diesen großen Maschinen benutzte man zur Herstellung und zum Editieren der 'Mutterrollen' auch kleine Handstanzmaschinen.

Nach dieser alten Leabarjan Handstanzmaschine ließ sich Nancarrow

eine moderne Stanzmaschine konstruieren. Foto: J. Hocker

Nach langer Suche stieß Nancarrow in New York auf die noch heute existierende Notenrollenfabrik Q.R.S., und er trug dem dort angestellten Notenrollen-Arrangeur J. Lawrence Cook sein Anliegen vor. (Cook, der 1976 im Alter von 77 Jahren starb, war nach dem Niedergang der Player Piano-Industrie einer der wenigen, mit Sicherheit jedoch einer der fruchtbarsten Notenrollen-Arrangeure. Er galt als 'The first name in Piano rolls' und er schuf fast 20.000 Arrangements, die z.T. unter Pseudonymen veröffentlicht wurden.) Cook war offensichtlich der erste, der Nancarrows Problem sofort verstand. Er besaß eine Handstanzmaschine, die genau Nancarrows Vorstellungen entsprach, einen 'Leabarjan Music Roll Perforator', der von der Leabarjan Manufacturing Co. in Hamilton, Ohio, gefertigt wurde. Solche Stanzmaschinen wurden im ersten Viertel unseres Jahrhunderts an viele Privatleute und an Musikschulen geliefert, die eigene Rollen stanzen oder kopieren wollten. Diese Maschinen waren zum Stanzen 'konventioneller' Musik konstruiert und konnten deshalb nur ganze Vielfache einer kleinsten Einheit (z.B. 32stel) stanzen.

                                Nancarrows nachkonstruierte Stanzmaschine (Detail). Foto: J. Hocker

Da Cooks Stanze unverkäuflich war, bat Nancarrow um Erlaubnis, sie kopieren zu dürfen. Er fand schließlich einen Mechaniker, der ihm in vielwöchiger Arbeit diese Stanze nachbaute. Während seines mehr als dreimonatigen Aufenthaltes in New York heiratete  Nancarrow die Malerin Annette Margolis, und er machte  die Bekanntschaft des damals noch unbekannten Komponisten John Cage.

Die Notenrolle

Die Notenrolle (der immer wieder verwendete Begriff 'Walze' ist falsch, da er für einen anderen Steuerungsmechanismus steht!) wird zum Steuern pneumatischer Musikautomaten - insbesondere von pneumatischen Klavieren - benutzt. Das von Nancarrow verwendete Ampico-System der American Piano Company benutzt Notenrollen mit einer Standardbreit von 28,6 cm. Sie bestehen aus besonders widerstandsfähigem Papier und sind in 96 (gedachte) Spuren eingeteilt. 83 Spuren steuern die Klaviertöne vom Subkontra-H bis a’’’’. Beim Ampico-System sind die beiden untersten und die drei obersten Töne der normalen Klaviatur pneumatisch nicht spielbar. Je sechs Spuren an beiden Rändern der Notenrolle steuern die Dynamik der beiden Klaviaturhälften und die Pedale; eine Spur ist für den automatischen Rücklauf der Rolle am Ende der Komposition vorgesehen. (Zur genauen Spurbelegung und Funktionsweise vgl. Lit.1.)

  

Kommerzielle Ampico-Notenrollen

   

Ampico-Notenrolle. Beginn der 2. Ungarischen Rhapsodie von Franz Liszt.

Der Lochstreifen wird von einem 'Gleitblock' pneumatisch gelesen. Erscheint ein Loch oder eine Lochreihe, so geht die entsprechende Taste nach unten. Wird das Loch oder die Lochreihe wieder geschlossen, so geht die Taste wieder nach oben. Ein einzelnes Loch erzeugt einen Stakkato-Ton, eine Lochreihe einen länger angehaltenen Ton. Eine Notenrolle kann maximal 15 Minuten Musik aufnehmen.

Die Studies for Player Piano No. 1 bis 20

Trotz zunehmender metrischer und rhythmischer Komplexität lassen sich Nancarrows Studies for Player Piano No. 1 bis 20 noch in konventioneller Weise notieren: „Die ersten zwanzig Studies schrieb ich noch in Standard-Notenschrift.“ Er stanzte die Musik nach den Partituren, ohne zuvor Skalen auf den Papierstreifen zu notieren. Alle Variablen wie Tonhöhe, Tonlänge oder Abstand der Töne können direkt an zwei Skalen der Stanzmaschine eingestellt bzw. abgelesen werden. Die Originalrollen von Nancarrows frühen Kompositionen für Player Piano weisen deshalb auch keinerlei 'Zeichnungen' auf. Da mit jeder Hebelbewegung der Stanze nur ein Loch gestanzt werden konnte und der ursprünglich vorhandene automatische Vorschub zum Stanzen von Lochreihen für längere Töne offensichtlich unbefriedigend arbeitete, verwendete Nancarrow in seinen ersten 19 Studies viele Stakkato-Töne: ... bis dahin gab es nur wenige Stücke mit ausgehaltenen Noten, weil das Stanzen von Lochreihen sehr viel Aufwand bedeutete. Alles war Stakkato! Mit dem Mechanismus mit festem Vorschub war das komplizierteste Tempoverhältnis, das ich je benutzte, wahrscheinlich 4 gegen 5.

Die Studies for Player Piano No. 21 bis 50

Conlon Nancarrow,Study No. 49c. Auszug aus der Notenrolle.

Die zunehmende Komplexität der musikalischen Zeitabläufe erforderte eine immer präzisere Stanzung, die mit Nancarrows erster Stanzmaschine, die über einen festen Vorschub verfügte, nicht ausgeführt werden konnte. Er ließ deshalb seine Stanzmaschine umbauen, wobei zum einen der Mechanismus für den festen Vorschub entfernt wurde, so dass der Stanzschlitten an jede gewünschte Stelle des Papierstreifens bewegt werden konnte. Zum anderen wurde das 'einfache' Stanzwerkzeug durch ein vierfaches Werkzeug ausgetauscht, so dass nun wahlweise bis zu vier Löcher gleichzeitig gestanzt werden konnten, was das Stanzen von Lochreihen für längere Töne erheblich erleichterte: „Es eröffnete sich mir ein Universum an neuen Möglichkeiten.“  Die komplexen Zeitabläufe, die sich nun nicht mehr in konventionelle Taktsysteme pressen ließen, erforderten auch eine Änderung des kompositorischen 'Arbeitsablaufes', der nun in vier Phasen stattfand.

Bevor Nancarrow jedoch mit der eigentlichen Arbeit begann, hatte er bereits eine klare Vorstellung über die Gesamtkomposition, insbesondere über die Zeit- und Tempoverhältnisse: „Natürlich habe ich mehr oder weniger eine Idee vom dem, was ich vorhabe, und auch von dem ganzen Stück, bevor ich anfange: einen allgemeinen Plan.“

a.) Festlegung der Zeitverhältnisse auf der Notenrolle

                                                      

Nancarrow legt eine leere Notenrolle auf seinem ca. 4 Meter langen Zeichentisch aus. Am vorderen und hinteren Ende dieses Tisches befindet sich je ein Mechanismus zum Auf- und Abwickeln der Notenrolle. In dem Regal im Hintergrund befinden sich leere Notenrollenspulen, Noten, 'Punching Scores' sowie Notenrollen mit 'klassischer' Musik (unten). Rechts an der Wand hängen verschiedene Geschwindigkeits- und Umrechnungstabellen.                    Foto: Jörg Borchardt

                                                                                        

Eine der wichtigsten Einrichtungsgegenstände in Nancarrows Studio in Mexico war ein ca. 4 Meter langer Zeichentisch, an dessen vorderem und hinterem Ende sich jeweils ein Mechanismus zum Ab- und Aufspulen einer Notenrolle befand. Der erste Arbeitsabschnitt bestand nun darin, die Zeitverhältnisse der Komposition möglichst exakt auf eine leere Notenrolle zu übertragen. Als Hilfsmittel dazu dienten ihm schmale Pappstreifen von etwa 4 cm Breite und 50 cm Länge, auf denen er Takt- und Zeitskalen gezeichnet hatte. 

Neben dem Zeichentisch befindet sich ein Schränkchen mit vielen Schubladen und Hunderten von Fächern, in denen Nancarrow seine Zeitschablonen aufbewahrt. Vor Beginn der Arbeit an einer neuen 'Study' wählt er die entsprechenden Schablonen, die er  zuvor angefertigt hat.                                                                                                                                                    Foto: Jörg Borchardt

 

In den Schubladen befinden sich Hunderte verschiedener Temposchablonen, wie z.B. 1% accel., 1,5% accel., 2% accel., 2,3% accel., prog. accel. 5% - 50%, regr. accel. 50% - 5%, prog. rit. 5% 50%, regr. rit. 50% 5% .

  Nancarrow entnimmt eine Temposkala. Foto: Jörg Borchard

                                                                    

Detailansicht einer Schublade des Skalenschrankes mit den Zeitschablonen. Die von Nancarrow gewählten Geschwindigkeitsverhältnisse finden oft eine Entsprechung in den Schwingunungsverhältnissen der Tonleiter. So entspricht z.B. das Schwingungsverhältnis von c4:ais4 einem Wert von 4:7, von c3:b3 einem Wert von 8:15 und von c1 zu a1 einem Wert von 3:5. Je nach Schwingungsverhältnis von zwei oder mehreren Tönen unterscheidet das Ohr zwischen konsonanten oder dissonanten Klängen. Nancarrow überträgt die Schwingungsverhältnisse von Tönen, die physikalisch gesehen Geschwindigkeitsverhältnisse darstellen, auf die Geschwindigkeiten einzelner Stimmen, und er unterscheidet zwischen temporalen Konsonanzen (z.B. 1:2, Oktave; 2:3, Quinte) und temporalen Dissonanzen (z.B. 5:7, Tritonus; 8:15, große Septime). Fotos: Jürgen Hocker.

                 

Nancarrow übertrug nun die Tempoverhältnisse der geplanten Komposition auf die Notenrolle, wobei jeder Stimme eine eigene Temposkala zugeordnet wurde. So zeigt die Notenrolle der 12-stimmigen Study No. 37 nicht weniger als 12 getrennte Temposkalen, die mit hoher Präzision gezeichnet wurden. Diese Skalen wurden für die gesamte Komposition übertragen

 

Nancarrows Zeichentisch. Die Aufspulmechanismen an beiden Seiten stammen von alten Player Pianos. Zum Planhalten der Notenrolle benutzt Nancarrow zwei schwere Messinglineale. Hinter dem Zeichentisch befindet sich eine Vielzahl an Noten, Skalen und Tabellen. Da in Mexico die meisten Häuser ohne Kamin gebaut werden und somit über keine Heizungsanlage verfügen, diente ein Heizlüfter zur Erwärmung des oft kühlen, fensterlosen Studios.                                                                                                                                         Foto: Jürgen Hocker

Dabei kann die Länge der Notenrolle - je nach Umfang der Komposition - bis zu 30 Meter betragen. Dies entspricht einer Spieldauer von ca. 12 Minuten. Bereits dieser erste Schritt ist sehr zeitaufwendig: Das Berechnen der Geschwindigkeitsskalen, das Zeichnen der Schablonen und das Übertragen auf die Notenrolle konnte bei komplexen Kompositionen einige Monate in Anspruch nehmen. 

         

Die Übertragung der Zeitschablonen auf die Notenrolle erfolgt mit hoher Präzision.

    Für sehr feine Skalen benutzt Nancarrow sogar eine Lupe.            Foto: Jörg Borchardt

                                                                                              

Um den Arbeitsablauf zu erleichtern hat Nancarrow einen Barhocker umgebaut und mit Rädern sowie einer Führungsschiene versehen, so dass er an seinem Zeichentisch entlang fahren kann.                                                                      Foto: Jürgen Hocker                                                                                                             

 

b.) Tempoorganisation in der Partitur

Im zweiten Schritt übertrug Nancarrow die Zeitskalen für die gesamte Komposition auf konventionelles Notenpapier, wobei allerdings nicht die gleiche Präzision wie beim Zeichnen der Notenrolle erforderlich war: „Es ist nicht so exakt wie die Rolle, aber es ist doch ziemlich akkurat.“

c.) Die eigentliche Komposition

Als nächstes folgen die Organisation von Tonhöhen und Tonlängen - die Anordnung der Töne im Zeitraster - und somit der eigentliche kompositorische Prozess: „Wenn ich arbeite, entstehen alle Faktoren wie Melodie, Harmonie und Rhythmus gemeinsam.“ Hierfür entwickelte Nancarrow ein Art musikalischer Kurzschrift, die nur er vollständig entziffern konnte, und die ihm als Vorlage für das Stanzen diente. Er bezeichnete diese Manuskripte als 'Punching Scores' (Stanzpartituren).

                                                                          

Seite einer Punching Score der Study No. 40. Diese Punching-Scores enthalten alle Informationen, die Nancarrow zum Stanzen einer Notenrolle benötigt. 

Diese Punching Scores enthalten neben den Temposkalen oft Hinweise auf den Ursprung der gewählten Tempoverhältnisse. So erscheinen die Geschwindigkeitsverhältnisse 3:4:5:7 der vierstimmigen Study No. 45b auf den ersten Blick als zufällige Zahlenspielerei. Nancarrow sieht in diesen Geschwindigkeiten jedoch die Schwingungsverhältnisse der Töne eines Dominantseptim-Akkords. 

Erste Seite der 'Punching Scores' (Stanzpartitur) von Nancarrows Study for Player Piano No. 45b. Auch hier wird der F-Dur Dominatseptimakkord als 'Ursprung' der Geschwindigkeitsverhältnisse der vier Stimmen angegeben. Die Temposkalen sind weniger präzise als auf der Notenrolle notiert, da sie nur zur Orientierung dienen. Stakkato-Noten werden grundsätzlich als Achtel notiert. Üblicherweise erscheint hierfür auf der Notenrolle nur ein Loch. Spielt das Player Piano jedoch Pianissimo, so stanzt Nancarrow zwei Löcher ( Tonverlängerung), um einen sicheren Anschlag zu gewährleisten. Längere Töne werden als Viertel notiert und die Tonlänge wird durch einen waagrechten Strich hinter dem Notenkopf angezeigt.

                                                                            

Beginn der Notenrolle von Nancarrows Study for Player Piano No. 45b. Zur besseren Orientierung wurde vom Autor am linken Rand eine Tonskala hinzugefügt. Beachte: Der Bass befindet sich auf der Notenrolle oben, der Diskant unten! Die Tonbezeichnungen G3, C4, E4 und Bb5 (dies entspricht einem Dominantseptimakkord in F-Dur) stehen für die Geschwindigkeitsverhältnisse der vier Stimmen von 3:4:5:7 (vgl. Text und Legende zu Abb.5). Die ersten Lochungen an beiden Rändern der Notenrolle (Cancel-Befehle) setzen die Lautstärke beider Klaviaturhälften auf Pianissimo. Bei dieser späten vierstimmigen Komposition mit ihren einfachen Geschwindigkeitsverhältnissen benutzt Nancarrow wieder das Taktsystem. Die durchgezogenen senkrechten Linien bezeichnen das Zeilenende in den 'Punching Scores'.

Sowohl vor den gezeichneten Skalen in der Notenrolle als auch vor den Systemen der Punching Scores sind die Noten G3, C4, E4 und Bb5 vermerkt. Das Schwingungsverhältnis der Quarte G3:C4 beträgt 3:4, das der großen Terz C4:E4 beträgt 4:5 und das des Tritonus E4:Bb5 liegt bei 5:7. Somit entsprechen die Geschwindigkeiten 3:4:5:7 der vier Stimmen in Study No. 45b den Schwingungsverhältnissen (Frequenzverhältnissen) eines Dominantseptimakkordes in F-Dur (vgl. Abbildung. In der Notenrolle befindet sich der Bass oben und der Diskant unten). Nancarrow hat hierfür die Begriffe 'Temporale Konsonanz' und 'Temporale Dissonanz' geprägt. Temporale Konsonanzen sind z.B. die Geschwindigkeitsverhältnisse 1:1 (entsprechend den Schwingungsverhältnissen der Prim), 1:2 (Oktave) oder 2:3 (Quinte). Ausgeprägte temporale Dissonanzen sind die Geschwindigkeitsverhältnisse mit irrationalen Zahlen wie e zu pi oder Wurzel 2 zu 2. Die oft in Notenrollen oder Punching Scores auftauchenden Tonbezeichnungen weisen selten auf eine Tonhöhe hin, sondern sie haben meist die Bedeutung einer Geschwindigkeit (vgl. Abb. 12, Auszug aus der Notenrolle der Study No. 25).                                                                           

Ausschnitt aus der Notenrolle von Nancarrows hochkomplexer Study for Player Piano No. 25. Bei den Lochstreifen befinden sich die tiefen Töne im oberen und die hohen Töne im unteren Teil des Streifens. Die Skalen sind aus stanztechnischen Gründen gegenüber den Lochungen um einen konstanten Betrag nach links verschoben. Bei den rautenförmigen Gebilden am Anfang und Ende dieses Ausschnitts handelt es sich keineswegs um unsauber gestanzte graphische Muster, sondern um akkurat gestanzte Tonfolgen (vgl. die entsprechenden Skalen mit feinster Teilung). Die Arpeggien rechts neben der Raute stellen Ausschnitte aus Obertonreihen dar (von oben nach unten: Oktave, Quinte, Quarte, große Terz, kleine Terz u.s.w.). Die Tonhöheangaben auf der vierten Skala von oben sind ein Maß für die Abfolge der musikalischen Ereignisse. Der auf einen Tonnamen folgende Abstand ist proportional der Wellenlänge des entsprechenden Tons.

                      

Auszug aus der Reinschrift der Partitur der Study No. 25. Dieser Ausschnitt entspricht in großen Teilen dem oben abgebildeten Lochstreifen.

 

Für die Tonlängen hat Nancarrow in seinen Punching-Scores eine spezielle Notationsweise entwickelt. Stakkato-Noten werden als Achtel notiert. Dies entspricht meist einem Loch in der Notenrolle. Spielt das pneumatische Klavier allerdings im Piano oder Pianissimo, so stanzt Nancarrow oft zwei dicht hintereinander liegende Löcher, um bei dem geringen Vakuum einen sicheren Anschlag zu erzielen. Längere Töne notiert er als Viertel, wobei er die Tonlänge durch einen waagrechten Strich hinter dem Notenkopf markiert. Sehr schnelle Tonfolgen werden als Achtel auf einem Hilfssystem notiert und mit einer Klammer exakt in die Temposkala 'eingepasst'. Die Dynamik wird in unterschiedlicher Weise angezeigt: Entweder mit den konventionellen Bezeichnungen wie p, mp, f, u.s.w., oder durch Angabe der notwendigen Dynamiklochungen auf der Notenrolle. Obwohl das pneumatische System eine stufenlose Dynamik erlaubt, benutzt Nancarrow aus ästhetischen Gründen ausschließlich Terrassendynamik. Die folgenden acht Befehle finden Verwendung, die durch kurze Lochungen auf den entsprechenden Spuren geschaltet werden:

  • Intensität 1:  Spur 7         pp (cancel)
  • Intensität 2:  Spur 2         p
  • Intensität 3:  Spur 4         mp
  • Intensität 4:  Spur 6         mf
  • Intensität 4a: Spur 2 + 4 mf (Intensität 4 und 4a ergeben etwa gleiche Lautstärke)
  • Intensität 5:  Spur 2 + 6  f
  • Intensität 6:  Spur 4 + 6  ff
  • Intensität 7:  Spur 2 + 4 + 6 fff 

Vor einem neuen Lautstärke-Befehl sollte jeweils der "Intensität aus"-Befehl (cancel) gelocht sein, um ein sicheres Umschalten zu gewährleisten. Rechtes und linkes Pedal werden durch Lochreihen gesteuert, d.h. die Lochungen werden über die gesamte Betätigungszeit der Pedale weitergeführt. Der Rückspulbefehl (Spur 8, Diskantseite) erscheint nur einmal am Ende der Rolle und leitet das selbsttätige Zurückspulen der Notenrolle ein. Nach Beendigung des Rückspulvorgangs wird das Instrument ausgeschaltet. Analog allen Informationsspuren verlaufen auch die 83 Tonspuren parallel vom Rollenanfang bis zum Rollenende. Deckt sich ein Loch einer Tonspur mit einer entsprechenden Öffnung des Gleitblocks, so wird - über einen kleinen Tonbalg - ein Klavierhammer an die Saite bewegt: der Ton erklingt mit der über die Intensität gesteuerten Lautstärke. Gleichzeitig hebt der Dämpfer ab. 

Zu detaillierten Informationen bzgl. Technik und Dynamiksteuerung des von Nancarrow benutzten Ampico-Systems vgl. Lit.1.

Die von Peter Garland in Soundings publizierten und inzwischen von Schott, Mainz, vertriebenen 'Reinschriften' der Studies for Player Piano sind oft erst viele Jahre nach den Kompositionen entstanden. Nancarrow verzichtete in diesen Partituren, die vorwiegend Studienzwecken dienen sollen, auf die Wiedergabe der Temposkalen. Dennoch vermitteln die Notenabstände ein gutes Bild des zeitlichen Ablaufs. Zum Reproduzieren einer Notenrolle sind sie jedoch - wegen der fehlenden Skalen - ungeeignet.

d.) Der Stanzvorgang

Nachdem die gesamte Komposition in den ‘Punching Scores’ fixiert ist, beginnt die aufwendige Arbeit des Stanzens, die wiederum einige Monate in Anspruch nehmen konnte.                                      

  

Nancarrow an seiner Stanzmaschine, die sich in einem Vorraum zu seinem Studio befand. Als Vorlage zum Stanzen dienten ihm die 'Punching Scores', die er auf dem Notenständer im Hintergrund ablegte. Das Stanzen einer Notenrolle konnte mehrere Monate in Anspruch nehmen.                                                                                                                           Foto: Jörg Borchardt  

Nach dem Einspannen der Notenrolle in die Stanzmaschine wurde das Papier mit zwei exzentrischen Wellen fixiert. Der Stanzschlitten lässt sich nun über eine Papierlänge von ca. 40 cm stufenlos bewegen. Die Tonhöhe wird mit Hilfe einer Skala und einer Zahnstange eingestellt, die oberhalb der Stanzfläche angeordnet sind. Um Tonanfang und Tonende exakt stanzen zu können, hat Nancarrow vor dem eigentlichen Stanzwerkzeug einen feinen Draht quer über das Papier gespannt, den er auf die richtige Position der auf die Notenrolle gezeichneten Skalen einstellt. Durch Einstellung des Stanzwerkzeugs kann er nun wahlweise ein bis vier Löcher gleichzeitig stanzen. Da der Draht, der Nancarrow zur Einstellung dient, 19,5 mm vor dem Stanzwerkzeug angeordnet ist, sind alle Lochungen auf den Notenrollen um 19,5 mm gegenüber den Skalen verschoben. Hierdurch wird zwar das 'Lesen' der Notenrolle erschwert - auf die Präzision der Lochanordnungen hat dies jedoch keinen Einfluss.

                                                                            

                                        Nancarrows Stanzmaschine, Gesamtansicht.  Foto: Jürgen Hocker

                                 

Nancarrows Stanzmaschine, Detail.  Foto: Jürgen Hocker

            

Stanzmaschine, Detailansichten. Die Tonhöhe wird über eine (auf dem Foto kaum sichtbare) Zahnstange am unteren Ende der Tonskala eingestellt. Das Stanzwerkzeug (Mitte) ist z.Zt. der Aufnahme mit drei von vier möglichen Stanzen bestückt, so dass bei einem Stanzvorgang drei (hintereinander liegende) Löcher gestanzt werden können. Im Vordergrund ist ein feiner Draht quer über das zu stanzende Papier gespannt. Mit Hilfe dieses Drahtes wird der bewegliche Stanzschlitten an den Skalen der Notenrolle ausgerichtet, so dass eine präzise Positionierung des Stanzwerkzeugs möglich ist. Da der Abstand des Drahtes zum Stanzwerkzeug 19,5 mm beträgt, sind alle Lochungen auf der Notenrolle um diesen Betrag gegenüber den Zeitskalen versetzt.

Foto: Jürgen Hocker

Nachdem das fixierte Papiersegment vollständig bearbeitet ist, werden die exzentrischen Rollen gelöst und das Papier wird um ca. 40cm nach vorne gezogen, so dass nun das zweite Segment gestanzt werden kann. Auf diese Weise wird die gesamte Notenrolle stufenweise bearbeitet. Wurde einmal versehentlich ein falsches Loch gestanzt, so konnte es mit einem transparenten Klebestreifen wieder verschlossen werden. Dies ist möglich, weil die Lochstreifen in den Player Pianos nicht optisch, sondern pneumatisch (d.h. durch einen Luftstrom) gelesen werden.

Nancarrow erwähnte des öfteren, dass er jederzeit während des Schaffensprozesses eine genaue Vorstellung vom Ablauf seiner Komposition gehabt habe. Deshalb nahm er bei seinen frühen Werken die Notenrolle erst aus der Stanzmaschine, nachdem sie vollständig gestanzt war. „Es ist tatsächlich so: Nachdem ich das Stanzen einer Rolle beendet habe und bevor ich sie in das Klavier lege - Du kannst Dir nicht vorstellen, wie aufgeregt ich bin. Wie wird es klingen? Wenn ich sie das erste mal höre, dann weiß ich, wie gut ich meine Vorstellungen verwirklichen konnte. Natürlich, je besser es meine Vorstellungen trifft, um so besser fühle ich mich.“

Bildergalerie der Study for Player Piano No. 36. Es handelt sich um einen streng vierstimmigen Kanon, bei dem die Stimmen in den Geschwindigkeitsverhältnissen 17/18/19/20 geführt werden. Die einzelnen Stimmen wurden vom Autor in der Notenrolle koloriert, damit man sie besser verfolgen kann.           

                                 Beginn der  Study No. 36 von Conlon Nancarrow

Auszüge aus der  Study No. 36 von Conlon Nancarrow

Mit seiner Study No. 27 erlebte Nancarrow jedoch eine herbe Enttäuschung: Als er sie nach vielmonatiger Arbeit erstmals hörte, musste er feststellen, dass er sich bei der Berechnung seiner Temposkalen verkalkuliert hatte. Obwohl Nancarrow bei seinem Player Piano die höchstmögliche Geschwindigkeit einstellte, lief die Notenrolle zu langsam. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die gesamte Prozedur, beginnend mit dem Zeichnen 'schnellerer' Schablonen, nochmals durchzuführen, ein Aufwand, der sich - wie er meinte - in jedem Fall gelohnt habe. Seitdem entnahm Nancarrow in regelmäßigen Abständen die Notenrolle der Stanzmaschine und überprüfte das bisherige Ergebnis.  

Nancarrow hat viele Möglichkeiten heutiger Computermusik um Jahrzehnte vorweggenommen. Sein Schaffensprozess  erforderte  jedoch einen extremen Zeitaufwand: An seinen umfangreicheren Werken arbeitete er etwa ein Jahr. Diese intensive Auseinandersetzung mit seiner Arbeit findet ihren Niederschlag in der Klarheit, Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit und Tiefe seiner Kompositionen.   

Literatur:

1. Jürgen Hocker, Begegnungen mit Conlon Nancarrow, Biographie

1a. Jürgen Hocker, Die Zeit als dritte Dimension, MusikTexte 31, 50-56, 1989.

2. Jürgen Hocker, Ohne Grenzen - Musik für Player Piano, In: Neue Zeitschrift für Musik 2, März / April 1995, 20-29.

3. Jürgen Hocker, Auf der Suche nach der Präzision - Conlon Nancarrow und die Renaissance des Selbstspielklaviers, In: Neue Zeitschrift für Musik 9, Sept. 1986, 22-32.

4. Herbert Henck, Monika Fürst-Heidtmann, Neues von Nancarrow, In: Neuland - Ansätze zur Musik der Gegenwart, Bd. 2, 1981/82, 216/217; Bd. 3, 1982/83; 247-251; Bd. 5, 1984/85, 297-301.

5. Monika Fürst-Heidtmann, Conlon Nancarrow und die Emanzipation des Tempos, In: Neue Zeitschrift für Musik 7/8, Juli/August 1989, 32-38.

6. Kyle Gann, The Music of Conlon Nancarrow. Music of the Twentieth Century (Hrsg. Arnold Whittall), Cambridge University Press 1995.


[1] Erweiterte und modifizierte Fassung einer Publikation in: Neue Zeitschrift für Musik Januar/Februar 1998, S. 50-53.

Der Autor hat 1984 einen originalen Ampico Bösendorfer Selbstspielfügel erworben, restauriert und nach den Angaben Nancarrows modifiziert. Seit 1987 steht dieses Instrument für Konzerte zur Verfügung. Er war mehrmals mit Nancarrow und diesem Instrument auf Konzertreisen, u.a. 1987 in Amsterdam, 1988 in Köln, Berlin, Hamburg und Hannover, 1989 in Wien und 1991 in Paris. Seit 1993 steht ein zweiter Ampico Selbstspielfügel zur Verfügung, so dass auch Nancarrows Studies for two Player Pianos aufgeführt werden können. Der Autor ließ sich nach Nancarrows Muster eine Stanzmaschine bauen und stanzte Duplikate vieler Nancarrow-Rollen sowie Kompositionen von George Antheil, Ernst Toch, György Ligeti, Tom Johnson u.a.

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